Als du sagtest, dass dir mein Text aus der Seele spricht, trieften deine Worte wie Honig von meinem Maul, und der Gedanke, so viel bewegen zu können, lullte mich ein in seiner eitlen und verlockenden Schönheit.

Als ich sah, wie immer andere aus deiner Seele sprachen, erkannte ich, dass deine Seele von selbst nicht sprechen konnte, und ich bedauerte nicht dich, sondern mich: Hätte ich die Macht gehabt, etwas zu bewegen – ich hätte deine sprachlose Seele befähigen müssen, aus sich selbst zu sprechen.
 

Wo Menschen an der Bruchlinie zum Unerträglichen stehen, braucht es meist einen kleinen Schubser: Einen Impuls, der zur Positionsänderung zwingt, einen leichten Stich, der zu einem unbedachten Schritt nach vorne verleitet. Das Unerträgliche besorgt dann den Rest – das liegt an seiner Unerträglichkeit. Es ist der Leidensdruck, der zu Veränderung führt.

Die Welt der Kunst ist jedoch kein Ort für Schubser. Künstler schaffen auch keinen Leidensdruck, sie entwerfen Scheinwelten. Sie sind Hersteller von Ablenkungen – sie produzieren Illusionen von Dingen, die Realitäten vielleicht abbilden, karikieren oder auch negieren mögen, selber aber nicht Realität sind. Realität: Das ist die Ebene, auf der das Herz anfängt zu schlagen, und auf der es für immer verstummt – die Ebene, auf der Sehnen reißen und Knochen brechen, Menschen verhungern oder verdursten, ganze Ökosysteme um angeblicher Profite willen in Flammen stehen und sich giftiger Schlamm durch ehemalige Flussbetten talabwärts wälzt – jene Ebene also, auf der sich die Menschheit letztlich selbst ausrotten wird.

Die Droge Kunst zielt auf Bewusstseinsveränderung, nicht auf Realitätsveränderung. Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit sind mögliche Nebenwirkungen, nicht mögliche Gegner. Indem Kunst Illusionen hervorbringt, erlöst sie unsere schmerzlichsten Sehnsüchte von der Last der Realität, und macht damit den Status Quo erträglicher.

Erträglichkeit ist jedoch der Feind der Veränderung. Es ist das Unerträgliche, das uns weiter bringt.
 

Natürlich könnte Kunst auch anders.

Kunst könnte jener Welt kleinkarierter, angeblicher Notwendigkeiten, die sich so gern als Wirklichkeit ausgibt, eine Alternative entgegenhalten. Würde Kunst als Realität verkannte Scheinwelten entlarven, käme auch der dahinter verborgene Leidensdruck zum Durchbruch.

Und eignete sich Kunst nicht auch als Refugium – als geschützter Bereich, in dem sich Denkmuster erproben lassen und Träume zu Taten heranreifen? Als Reservat, in dem ein höherer Anspruch seine Kräfte sammelt, um eines Tages gestärkt aus ihm hervorzugehen und triumphal in die Realität zurückzukehren?

Wer daran glaubt, übersieht, dass das Reservat die Erfindung der Eroberer ist. Ins Reservat geht niemand freiwillig – es ist ein Ort für Verlierer.

Das Reservat ist die Vorstufe der Ausrottung. Immer.
 

Kunst ist Kapitulation. Ihre bloße Existenz setzt die Anerkennung voraus, dass es überhaupt eine menschliche Realität geben kann, die von Kunst losgelöst existiert, die Nicht-Kunst ist. Eine Welt der Nicht-Kunst, in der die Regeln der Kunst nicht gelten, die frei ist von kreativem Spiel, frei von Lebendigkeit und persönlichen Ausdrucksformen – eine Welt, in der alles zweckmäßig ist und die trotzdem für das menschliche Dasein irgendeine Bedeutung haben soll.

Kunst ist damit nicht nur Teil einer dreisten Lüge – sie ist auch ein Abfallprodukt.

Wer von Kunst erwartet, ein Licht in der Finsternis zu sein, den lässt sie im Stich, und wo sie leblose Seelen zum Sprechen bringt, agiert sie selbstgefällig als Bauchredner.

Kunst eignet sich noch nicht einmal für diesen kleinen, aber so wichtigen Schubser, wenn wir vor dem Unerträglichen stehen.
 

Ganz ehrlich? Ich konnte mit Kunst noch nie etwas anfangen.

Ich bin einer von denen, die sich Weltliteratur bloß anschaffen, damit das gebraucht gekaufte IKEA-Regal im Wohnzimmer nicht so verdammt leer aussieht. Für Bilder beginne ich mich zu interessieren, wenn die Tapete Risse zeigt und Pinseln nicht mehr hilft. Zum Essen höre ich manchmal Vivaldi, weil das die Verdauung anregt. Und wenn ich mit meiner Freundin ins Theater gehe, dann nur deshalb, um die beklemmende Stille zu füllen, die dem endgültigen Niedergang unserer Beziehung vorausgeht.

Dass ich auch ohne Kunst leben kann, liegt jedoch nicht an mir. Es liegt an der Kunst – und an dem Umstand, dass man auch ohne sie leben kann. Tatsächlich scheint Kunst nur so lange mit unserem Dasein verwachsen zu sein, solange sie weder als solche erkannt noch als solche bezeichnet wird. Wird sie enttarnt, geht die Verbindung unwiederbringlich verloren. Mit ihrem zentralen Platz im Leben büßt Kunst jedoch auch ihren archimedischen Punkt ein und damit die Macht, Dinge zu bewegen.

Dass gerade diejenigen mit Vorliebe als Künstler bezeichnet werden, die die grundlegenden Systemregeln in Frage stellen, ist insofern nicht weiter erstaunlich: Das Etikett “Kunst” ist eine der schärfsten Waffen des Establishments, um sich gegen die gesellschaftsverändernde Wirkung menschlichen Handelns zur Wehr zu setzen. Das Etikett “Künstler” wiederum kommt einer Diffamierung gleich: Dem handelnden Subjekt wird damit die Fähigkeit abgesprochen, etwas von realer Tragweite zu produzieren. Wo das Handeln einer Rosa Parks oder eines Mahatma Gandhi als Interventionskunst verkannt wird, kann es keinen Wandel geben.

Auf dem freien Markt scheint das Etikett “Kunst” zudem ein Korruptionstitel zu sein – es signalisiert die prinzipielle Käuflichkeit all dessen, was der Künstler hervorbringt, und macht es so beherrschbar. Nicht käuflich zu sein ist damit jedoch keine Frage persönlicher Prinzipien mehr, sondern bloßer Ausdruck von Wertlosigkeit.

Der Versuch, dem Dilemma durch Provokationen und Regelbrüche zu entkommen, bleibt sinnlos, solange er im Verborgenen stattfindet, und verfehlt sein Ziel in dem Moment, in dem er Aufmerksamkeit erregt, da Aufmerksamkeit dem Künstler fast unvermeidlich zu Anerkennung verhilft.

Wer ahnt, dass dieser Kampf im Rahmen der Kunst niemals gewonnen werden kann, dem müssen Veranstaltungen, bei denen die Kunst sich selbst feiert, verdächtig erscheinen – und sei es nur deshalb, weil so ihr Aufenthaltsort verraten wird: Um lebendig zu bleiben, muss Kunst den Rahmen sprengen. Sie muss sich entziehen, muss aufhören, greifbar zu sein, muss untertauchen um dort wieder aufzutauchen, wo sie nicht erwartet wird.

Um die Welt zu retten, müsste sich die Kunst opfern. Sie müsste die Grenzen zur Nicht-Kunst einreißen.

Sie müsste aufhören, Kunst zu sein.

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Stefan