Die Luft brannte in Schempps Lungen, als er die letzten Stufen der U-Bahn-Treppe erklomm und schließlich völlig außer Atem die Plattform betrat.

Und da stand der Zug, honiggelb in der Morgensonne, und erinnerte ihn augenblicklich an den nagelneuen SL, den er sich gekauft hatte – damals, Anfang der 90er, von der Prämie, die sie ihm für die erste große Personalstandsbereinigung gezahlt hatten. Todschick war der gewesen!

Unwillkürlich setzte sich Schempp in Trab, wohl wissend, dass es völlig sinnlos war: Die Fahrgäste waren schon ausgestiegen, und im nächsten Moment würden sich die Türen wieder schließen, der Zug würde abfahren und die ganze Anstrengung wäre umsonst gewesen.

Aber nichts dergleichen geschah.
 

Wieder einmal musste der Teufel einer Seele die Tür aufhalten. Natürlich hätte er dazu nicht extra aufstehen müssen, aber sie begriffen es ja sonst nicht, also machte er es – ihnen zuliebe.

Die Zielperson war noch nicht so alt und auch nicht so dick wie die meisten, aber ihre Seele war fett und reif wie die Leber einer Stopfgans.

Dass die U-Bahn noch immer am Bahnsteig stand, lag an seiner Unpünktlichkeit. Der Teufel hasste es, wenn sie zu spät zu ihrem Rendezvous kamen. Gut. Streng genommen war er es, der den Zeitplan machte. Aber für ihn war das eine Art Vorspiel – er brauchte es, um in Stimmung zu kommen. Der Teufel genoss es einfach, wenn ihm die Leute zuwider waren – das machte die Sache vergnüglicher.
 

Schempp machte einen letzten schweren Schritt von der Plattform in den Waggon. Der Teufel hatte die Tür bereits losgelassen, sodass sie beim Zufallen ganz leicht an Schempps Fuß streifte.

Schempp ließ sich keuchend auf einen Sitz fallen, und der Teufel setzte sich ihm ruhig gegenüber.

“Danke.” japste Schempp.

Der Teufel lächelte still. In diesem Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung.

Sie hatten die Station noch nicht verlassen, als Schempp auf einmal von rechts eine brüchige Männerstimme vernahm. “Mein Name ist Heinz und ich bin derzeit obdachlos. Ich verkaufe die Straßenzeitung ‘Motz’. Auch über eine kleine Spende würde ich mich sehr freuen…”

Schempp drehte flüchtig den Kopf, wandte sich jedoch gleich wieder ab, noch ehe der Motz-Verkäufer Blickkontakt herstellen konnte.

Der Teufel kramte unterdessen in seiner Tasche und holte eine Münze hervor. Da er es war, der die Münzen herstellte, erschien es ihm nur angemessen, sie auch selbst unters Volk zu bringen, anstatt sich dafür der Bundesbank zu bedienen. Nicht, dass ihm die moderne, arbeitsteilige Welt nicht vielversprechend erschien – er machte sich einfach nur gern die Hände schmutzig, das war alles.

Der Teufel war für einen Moment in Gedanken versunken gewesen und so war ihm entgangen, dass die Zielperson jetzt wieder zu sprechen begonnen hatte.

“Was suchst du dir nicht einfach einen Job?” knurrte sie jetzt.

Der Teufel seufzte erleichtert – er hatte nichts verpasst. Er drückte dem Motz-Verkäufer die Goldmünze in die Hand, und während der sein Glück kaum fassen konnte, hielt Schempp auf einmal inne: Offenbar hatte er gerade entdeckt, dass der Teufel genau die gleiche Kleidung trug wie er. Schuhe, Hose, Sakko – sogar der Aktenkoffer war derselbe.

“Sie haben ja genau dasselbe an wie ich!” sagte der Teufel routiniert. Er liebte es, den Menschen die Worte aus dem Mund zu nehmen und dann zuzusehen, wenn sie wie die Kaulquappen nach Luft schnappten.

Schempps Lippen schlossen sich. Dann öffnete er den Mund wieder.

“Ist Ihnen wohl auch gerade aufgefallen!” rief der Teufel. “Sachen gibt’s!”

Schempp nickte stumm.

“Sie fahren wohl nicht oft mit der U-Bahn?” fragte der Teufel jetzt, und in diesem Moment hatte er von dem Gespräch Besitz ergriffen.

“Doch, doch – also, als Kind. Jetzt schon länger nicht mehr.” räumte Schempp ein. “Aber wenn man kein Auto hat – tolle Sache, die U-Bahn. – Kann man mal sehen, was mit unserem Steuergeld so alles gemacht wird!”

“Die U-Bahn ist aus dem 19. Jahrhundert.” bemerkte der Teufel nüchtern.

“Wird ja immer so schlecht geredet.” plapperte Schempp.

“Zahlen Sie denn überhaupt Steuern?” Der Teufel lächelte süffisant.

“Aber ja!” protestierte Schempp. “Also, nicht direkt – aber meine Angestellten. Von meinem Geld. Und das nicht zu knapp! Überhaupt sind die Lohnnebenkosten heute der Wahnsinn, das kann ich Ihnen sagen. Dem Standort Deutschland wird damit massiver Schaden…” Weiter kam er nicht, denn die restlichen Worte ertranken in dem Lärm, der in diesem Moment vom anderen Ende des Waggons herüberschwappte. Schempp schien es, als würde dort jemand das Inventar zertrümmern – dass das „Musik“ sein sollte, begriff er erst, als er das verlotterte Paar mit den grellen Haaren und dem Verstärker erblickte. Er starrte die beiden entsetzt an und schüttelte dann ungläubig den Kopf. “Die Sitzung heute ist enorm wichtig. Da kann ich unmöglich zu spät kommen.”

Der Teufel runzelte die Stirn und legte den Kopf zur Seite – es war offensichtlich, dass er kein Wort verstand.

Schempp hob die Stimme. “Es geht um Maßnahmen zum Schutz unserer Aktionäre. Wussten Sie eigentlich, dass es zehnmal so viele Kleinanleger wie Großinvestoren gibt? Wenn wir Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, wirkt sich das enorm auf die Rendite aus, verstehen Sie? Hinter jedem Aktiendepot steckt schließlich auch ein menschliches Schicksal!”

Der Teufel kniff jetzt die Augen zusammen und hielt sich ostentativ die Hände an die Ohren.

“Die Menschen verlassen sich auf uns!” rief Schempp. “Als Unternehmen tragen wir schließlich auch eine soziale Verantwortung!”

Der Teufel schüttelte bloß den Kopf – es war hoffnungslos.

Schempp deutet jetzt in Richtung des Pärchens. “Wenn das meine Kinder machen würden – ich würde sie enterben!” schrie er.

Der Teufel nickte abwesend, während er dem Gespräch der beiden Nonnen drei Waggons weiter lauschte und seine Finger dabei im Takt zu Schempps Herzschlag klopften. Dass Schempp ständig in die Musik hineinquatschte, fand er völlig unmöglich.

Schempp sah auf die Uhr.

“Sie haben noch Zeit.” bemerkte der Teufel sanft, ohne Schempp dabei anzusehen. “20 Minuten etwa.”

Schempp stutzte, erstaunt, dass er den Teufel derart mühelos verstand – fast schien es, als würden die Worte aus seinem eigenen Kopf kommen.

Im selben Moment verstummte der Krach auf einmal und die beiden Punks fingen an, mit einem Becher durch den Wagen zu gehen. Den Verstärker zogen sie an einem klapprigen Wägelchen hinter sich her.

“Sind Sie öfter mit der U-Bahn unterwegs?” fragte Schempp den Teufel.

Der Teufel nickte. “Beruflich.” sagte er knapp.

“Und ist es immer so schlimm?”

“Das ist noch gar nichts.” sagte der Teufel und warf eine Münze in den Becher, den ihm die Frau hinhielt.

Schempp schüttelte ungläubig den Kopf. “Wo ich aufgewachsen bin, wäre sowas undenkbar. Betteln ist bei uns verboten!”

In diesem Moment rollte das Wägelchen über Schempps nagelneue Berluti-Schuhe. „Asoziales Pack!“ keuchte er. Dann zog er ein Taschentuch aus der Brusttasche und begann damit über das malträtierte Leder zu polieren.

“Und warum sind Sie heute hier?” fragte der Teufel belustigt. “Aus… Neugier?”

Schempp schüttelte den Kopf. “Das glauben Sie mir nie! Jemand hat mir die Reifen aufgestochen. Alle vier! Meine Frau hat den anderen Wagen. Taxi war auch keins zu bekommen. Verrückter Morgen ist das. Ich bin noch nicht mal zum Frühstücken gekommen!”

“Frühstück! Lecker Frühstück!” rief in diesem Moment eine dünne Stimme durch den Waggon.

Schempp sah den Teufel erstaunt an.

Der Teufel zuckte die Achseln. “Von irgendwas müssen die Leute ja leben.”

In die Fahrgäste kam jetzt Bewegung – dann tauchte unter allgemeinem Gezeter ein Mann von derart stattlichem Umfang auf, dass er Mühe hatte, sich durch den Mittelgang zu quetschen.

“Lecker Frühstück.” stöhnte er angestrengt.

Schempp sah zu dem Mann auf und betrachtete die aufgeschwemmten Gliedmaßen – eine Tasche oder einen Servierwagen suchte er vergeblich. “Frühstück?!” fragte Schempp missmutig.

Wie aufs Stichwort griff sich der Mann an die Brust – dann zog er einen Reißverschluss nach unten, und als die beiden Jackenhälften wie Vorhänge auseinanderglitten, kam dahinter das raffinierte Metallgestell zum Vorschein, das er sich um den Körper geschnallt hatte. Um die Querstreben waren Käse- und Wurstscheiben gewickelt, auf der mittleren Etage fanden sich Butter und Marmelade, anstelle des vermeintlichen Bierbauchs hatte er einen Toaster eingebaut und ganz unten standen auf einem silbernen Tablett zwei hartgekochte Eier.

Der Mann hob behäbig die Arme. “Kaffee!” ächzte er und sah dabei auf den linken Arm. Und dann, mit einer Kopfbewegung zum rechten: ”Tee!”

“Das ist ja ganz entzückend!” rief Schempp begeistert. “Sehr innovativ. Ich war heute ja so in Eile, ich bin überhaupt nicht…” Dann brach er auf einmal ab, und seine Augen verengten sich. “Wieviel?” fragte er.

“Ist All-you-can-eat-Konzept!” sagte der Mann. “Eine Station – ein E-uro.”

“So billig!” rief Schempp.

Der Mann zuckte unwillkürlich zusammen. Dann griff er hastig nach den Reißverschlüssen an seinen Hosenbeinen, und als die beiden Taschen fast gleichzeitig aufklappten, offenbarten sie einen kleinen Tank mit der Aufschrift “Rotkäppchen” und eine silberne Wendeltreppe mit etwas, das wie Kaviar aussah. “Ist Luxus-Version: Fünf Stationen. Acht E-uro!”

“Einverstanden!” sagte Schempp augenblicklich. Dann wandte er sich dem Teufel zu. “Großartig, oder? Dieser Innovationsgeist! Nur so lässt sich konstantes Wachstum erzielen.”

Schempp nahm das Besteck, das ihm das All-You-Can-Eat-Buffet hingehalten hatte, und ließ es aus der Serviette gleiten. “Jeder kann seinen Beitrag leisten!” bemerkte er zufrieden.

Er spießte zwei Wurstscheiben mit dem Messer auf, rollte sie mit der Gabel zusammen und steckte sie sich in den Mund. Das sah so aus, als ob er dem Mann das Fleisch von den Rippen aß. Der Teufel fand die Optik sehr gelungen.

Dass sich hinter ihm inzwischen ein Orchester angepirscht hatte, bemerkte Schempp erst, als auf einmal die Streicher loslegten. Schempp fuhr herum: Neben dem Geiger und der Cellistin hatten eine Klarinettistin und ein Trompeter Aufstellung genommen – die Harfenspielerin in ihrer Mitte rundete das Ensemble ab.

Klassische Musik passte hervorragend zum Essen, fand Schempp. In der U-Bahn reiste man doch komfortabler als er gedacht hatte. Das Orchester schlug ein halsbrecherisches Tempo an und galoppierte mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit durch das Werk. Es schien, als wollten sie zwischen zwei Stationen eine ganze Symphonie unterbringen. Die Qualität war dennoch erstaunlich!

“Das war sehr gut.” sagte Schempp, als der Zug in die Station eingefahren war und die Musiker erschöpft zusammenbrachen. Er klatschte anerkennend in die Hände. “Haben Sie schon mal daran gedacht, irgendwo aufzutreten? Also, vor Fachpublikum. Da sollten Sie wirklich mehr daraus machen!”

“Wir sind das Berliner Symphonieorchester.” keuchte die Harfenspielerin. “Wir versuchen uns auf diese Weise über Wasser zu halten.”

Der Posaunist nickte. “Die Gehälter sind gesunken und die Preise gestiegen.” ächzte er. “Wer kann sich heute noch Musik leisten?“

Schempp machte ein erstauntes Gesicht. “Sie werden aber doch subventioniert, oder nicht?”

“Das war einmal.” warf die Cellistin ein. “Seit dem letzten Bankenrettungspaket gibt es für sowas kein Geld mehr. Der Staat muss Prioritäten setzen, wissen Sie?”

“Natürlich!” Schempp nickte verständnisvoll.

Der Teufel hatte jetzt wieder in seine Tasche gegriffen und teilte an die Musiker Goldmünzen aus.

“Sie sind ein guter Mensch.” bemerkte Schempp.

“Nana, übertreiben Sie mal nicht.” sagte der Teufel und wurde rot.

“Bedienen Sie sich doch, junger Mann!” wandte sich Schempp jetzt noch einmal an das Buffet, während er einen Toast mit zerlassener Butter bestrich und anschließend großzügig mit Käse belegte. “Sie sehen aus, als könnten Sie einen Happen vertragen!”

Der Mann sah Schempp erschrocken an. „W… wenn ich essen würde, wovon sollte ich dann leben?” stammelte er ängstlich.

Schempp ließ die Antwort einen Moment lang wirken. “Klare Trennung von Arbeit und Vergnügen.” lobte er schließlich. “Sie gefallen mir!” Er biss in den Toast und machte eine anerkennende Geste. “Wirklich lecker!” rief er, wurde sich seiner Gedankenlosigkeit jedoch augenblicklich bewusst. Er kaute noch ein paar Mal und beeilte sich dann, den Bissen herunterzuschlucken. “Mit vollem Mund spricht man nicht…” bemerkte er kopfschüttelnd.

“Gehen Sie doch nicht so hart mit sich ins Gericht!” hörte er in diesem Moment eine Stimme hinter sich sagen.

Schempp holte Luft und fuhr herum – als er das russgeschwärzte Gesicht seines Gegenübers sah, verkniff er sich jedoch eine Antwort.

“Suchen Sie ‘nen Wagen?” flüsterte der Mann vertraulich. “Hätte einen Porsche anzubieten. Nur 3.000 Kilometer! Einmal falsch geparkt – ansonsten wie neu!”

“Sie verkaufen den Wagen wegen eines Strafmandats?!” fragte Schempp ungläubig.

“Ne, Molotowcocktail.” korrigierte ihn der andere und grinste unbeholfen – wie sich herausstellte, hatte er keine Zähne.

Schempp warf dem Teufel einen irritierten Blick zu, doch der deutete ihm, dass er die Situation im Griff hatte. “Wieviel?” fragte er geschäftsmäßig.

Der Mann zögerte, während sich um seine Mundwinkel ein unmerkliches Zucken einstellte. “Tausend.” sagte er schließlich.

“Zehn.” sagte der Teufel nur deshalb, weil er es konnte.

Der Mann biss sich auf die Lippen. “Gut, dann zehn!” presste er schließlich hervor und drückte dem Teufel hastig die Autoschlüssel in die Hand.

“Aber – der ist doch bestimmt… ausgebrannt?!” flüsterte Schempp.

Der Teufel tat, als hätte er es nicht gehört, und gab dem Mann ein Goldstück.

Der Mann betrachtete ungläubig die Münze in seiner Hand. “Krass Mann. Danke!” flüsterte er schließlich und suchte dann hastig das Weite, ehe es sich der Teufel vielleicht noch anders überlegte.

“Brauche ich zu Dekozwecken.” sagte der Teufel zufrieden.

“Zur Deko?!” Schempp schüttelte ungläubig den Kopf.

Der Teufel zuckte die Achseln. “Bei mir sieht früher oder später alles so aus.”

“Wo wohnen Sie denn – Lichtenberg?!” fragte Schempp erstaunt.

“So ähnlich.” sagte der Teufel.

“Diese Münzen…” begann Schempp nach einer kurzen Pause.

Der Teufel griff in die Tasche, förderte eine größere Portion davon zutage und hielt sie Schempp direkt unter die Nase. “Die hier?”

Schempp nickte ehrfürchtig. “Darf ich mal?” fragte er mit einem unmerklichen Zittern in der Stimme.

Der Teufel zuckte die Achseln – dann drehte er die langsam die Hand und ließ die Münzen im Schempps Schoß plumpsen.

Die Münzen sahen schon alt aus, aber Schempp konnte sie weder einem bestimmten Land noch einer bestimmten Epoche zuordnen. “Wo haben Sie die her?” fragte er schließlich.

“Ich habe immer einen Vorrat davon in der Tasche.” behauptete der Teufel ausweichend, aber Schempp schien es gar nicht so genau wissen zu wollen.

“Kann ich die… behalten?” fragte er schließlich möglichst beiläufig.

Der Teufel machte eine einladende Geste.

“Danke!” sagte Schempp und ließ die Münzen hastig in seiner Tasche verschwinden. “Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt!”

“Ich bin der Teufel.” sagte der Teufel.

“Wie – DER Teufel?!”

Der Teufel nickte.

“Das ist ja großartig!” rief Schempp bewundernd. “Ich verfolge Ihre Firmengeschichte ja schon länger. Wir haben uns allerdings für Bose-Lautsprecher entschieden – das war die Entscheidung meiner Frau.”

Der Teufel nickte gleichgültig.

“Schempp!” sagte Schempp und streckte die Hand aus.

“Ich weiß.” sagte der Teufel, während sich seine Finger wie Tentakeln um Schempps Hand schlossen.

“Hatte ich etwa schon…?” Schempp stutzte. “Na, Sie sind mir einer.” Er versuchte den Griff wieder zu lösen, aber der Teufel hielt ihn mühelos fest. Schempp wirkte irritiert. Sichtlich verwirrt begann er, dem Teufel noch einmal die Hand zu schütteln – dann riss er sich mit einem jähen Ruck los und betrachtete für einen Moment die Hand in seinem Schoß, so als müsste er sich davon überzeugen, dass er noch alle Finger besaß.

Der Teufel lächelte amüsiert.

Schempp sah sich verlegen um: Zu seiner Rechten wechselte gerade eine rostige Miele den Besitzer, während er vermeinte, irgendwo dahinter einen Zahnarztbohrer zu zu hören. Links ließ sich ein kleiner Junge widerwillig die Haare schneiden, und Schempp bemerkte die aberwitzig große Schere, die eher in ein gruseliges Kinderbuch als in Friseurhände zu gehören schien. “Sieht ja höllisch scharf aus!” lachte er augenzwinkernd, aber der Teufel überhörte es wohlwollend. “Ich will den Teufel ja nicht an die Wand malen…” legte Schempp jetzt noch einmal nach.

Der Teufel rollte mit den Augen. “Noch so ein Spruch und ich zeige dir, wie es ist, vom Teufel geritten zu werden!” dachte er im Stillen. Dann beugte er sich nach vorn und schüttelte den Kopf aus, sodass zu beiden Seiten seines Gesichts langes, glattes Haar herabfiel. “Ich benötige eine Dauerwelle.” sagte er an den Friseur gewandt.

Der Friseur sah erstaunt von seiner Arbeit auf, fasste sich aber schnell wieder, als ihm der Teufel ein Goldstück in die Hand drückte. Er ließ den Jungen augenblicklich sitzen und kam zum Teufel hinüber – sehr zum Missfallen seiner Mutter, die sich erst beruhigte, nachdem ihr der Teufel ebenfalls ein Goldstück gegeben hatte.

Schempp hatte inzwischen begonnen, eine Scheibe Toast dick mit Kaviar zu belegen. Der Zug hielt, der Mieleverkäufer stieg aus und ein anderer Mann huschte im letzten Moment in den Waggon, bevor sich die Türen wieder schlossen. Er wirkte ausgezehrt und wich auf dem Weg durch den Wagen einigen imaginären Hindernissen aus, bevor er schließlich mit dem Friseur kollidierte.

“Die Hose hat ja auch schon bessere Tage gesehen.” behauptete er, nachdem er den Friseur ein letztes Mal argwöhnisch beäugt hatte und schließlich vor Schempp stand.

Schempp kniff die Augen zusammen. Dann sahen sie beide auf seine makellosen Bügelfalten herab.

“Naja, vielleicht nicht bessere.” lachte der Mann. “Aber ist die denn bequem? Für nen schlappen Zehner kannst du eine Spitzen-Blue Jeans haben. Genau – deine – Größe! Voller Wohlfühlfaktor, Mann!”

Schempp schüttelte verächtlich den Kopf.

“Hier!” sagte der Typ und deutete auf die viel zu große Hose, die ihm am ausgemergelten Leib hing. “Hab ich schon mal probegetragen. Unterwäsche kannste auch kaufen. Ich bin dafür zu schlank – siehste ja. Aber dir passt die doch bestimmt!”

Schempp wandte sich angewidert ab, spürte jedoch im nächsten Moment, wie die Hand des Fremden erst an seinem Bein entlangwischte und dann anfing, an seinen Bügelfalten herumzuzupfen. Er strich sich irritiert über die Hose, dann drehte er sich wütend um – und blickte auf einmal ins Gesicht einer verlebt aussehenden Frau, die neben ihm auf den Boden kniete. Sie mochte um die 40 sein, aber bei näherem Hinsehen war es unmöglich, das mit Bestimmtheit zu sagen.

“Wollen – Sie – meine – Kinder – kaufen?” presste sie schließlich hervor. Schempp wandte hastig den Blick ab, aber das schien die Frau bloß in Panik zu versetzen. Sie lief um Schempp herum und warf sich vor ihm auf den Boden, sodass er sie unmöglich ignorieren konnte.

“Eins für 200 Euro. Drei zum Preis von zwei. Bitte. Es geht mir nicht ums Geld, verstehen Sie.” Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln, das jedoch zu einer ängstlichen Fratze geriet.

Schempp sah hilflos zum Teufel hinüber, der jedoch abwesend in einem Männermagazin blätterte und ihn nicht zu beachten schien.

In diesem Moment wurde Schempp auf einmal schlecht. Er spuckte den letzten Bissen des Kaviar-Toasts zurück auf eine Serviette und warf dem All-You-Can-Eat-Buffet einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann atmete er tief durch, aber die Luft, die er dabei einsog, roch süßlich nach Fäulnis und Verwesung.

“Was sind Sie denn für eine Rabenmutter!” keuchte Schempp. “Wie können Sie auch nur daran denken, aus der Not Ihrer Kinder Kapital zu schlagen!”

Die Frau erstarrte. Dann schienen sich ihre blassen Augen allmählich mit Wasser zu füllen. “Es geht mir nicht ums Geld.” wiederholte sie leise. “Gute Qualität. Auch die Mädchen. Sehen Sie.” Sie zog die jüngste Tochter zu sich heran und kniff ihr so fest in die Backe, dass die Kleine augenblicklich zu weinen begann. “Großes Temperament!” erklärte sie hastig. “Werden Rasseweiber. Ganz die Mutter.”

Es war ein anderer Fahrgast, der Schempp in diesem Moment zu Hilfe kam und die Frau unsanft beiseite zerrte, ehe er sich auf den Platz zwischen ihr und Schempp setzte.

„Siehst du nicht, dass du den feinen Herrn belästigst?“ fauchte er sie an.

Schempp mochte nicht, wie der andere den „feinen Herrn“ betont hatte, aber dass er ihn aus der unangenehmen Lage befreit hatte, wog die Sache mehr als auf.

Die Frau verharrte noch einen Augenblick wie in Schockstarre, aber als ihr der Mann unmissverständlich deutete, endlich weiter zu geben, packte sie ihre Kinder und gab die Sache auf.

“Mein Name ist Karl.” stellte sich Schempps Retter vor und legte im nächsten Moment vertraulich den Arm um ihn. Dass es nicht sein eigener war, fiel Schempp zunächst nicht auf.

“Besonders gut sehen sie ja nicht aus.” behauptete Karl, nachdem er Schempp kurz gemustert hatte, und tatsächlich hatte Schempp das Gefühl, in den letzten Minuten um Jahre gealtert zu sein. “Aber keine Sorge – bei mir bekommen Sie alles, was Sie für ein gesundes und langes Leben brauchen.”

Mit diesen Worten rollte er den Pullover hoch und entblößte eine riesige Narbe, die quer über seinen Brustkorb verlief und noch nicht ganz verheilt zu sein schien. “Ich habe noch beide Nieren!” flüsterte er. “Haben Sie Interesse?”

Schempp wandte sich entsetzt ab, aber das schien den anderen bloß anzuspornen.

”Wie wäre es mit ein paar Fingern?!“ raunte er Schempp ins Ohr. Im nächsten Moment hatte er auch schon ein riesiges Schlachtermesser in der Hand. „Ich habe noch alle zehn, sogar die Daumen. Sie können frei wählen. Wenn Sie wollen, können Sie sie gleich mitnehmen. Ich…”

Schempp sprang von seinem Sitz auf. „Ich halt das nicht mehr aus!!!” schrie er.

Der Teufel sah jetzt von seiner Zeitschrift auf. “Nana, beruhigen Sie sich mal…”

Schempp starrte den Teufel mit weit aufgerissenen Augen an – es war offensichtlich, dass er sich nicht mehr beruhigen würde.

In diesem Moment leitete die U-Bahn auf einmal eine Vollbremsung ein. Der Zug stemmte sich kreischend gegen die Trägheit seines eigenen Gewichts und kam dann mit einem Ruck zum Stehen. Die Türen öffneten sich.

“Ich muss hier raus.“ schnaufte Schempp ein letztes Mal und lief dann auf die Tür zu.

“Das ist die falsche Seite.” murmelte der Teufel, ohne noch einmal aufzusehen – aber Schempp hätte es auch nicht gehört, wenn die Warnung über Lautsprecher gekommen wäre. Er erreichte die Tür und machte einen Schritt ins Dunkel hinaus. Im nächsten Moment wurde er vom Zug aus der Gegenrichtung erfasst.

Der Teufel seufzte zufrieden, wie er es immer tat, wenn die Choreographie so perfekt funktionierte. Der Friseur hatte gerade die letzten Lockenwickler entfernt, und auch sonst schien den Vorfall niemand bemerkt zu haben – abgesehen vielleicht vom All-You-Can-Eat-Buffet, das wie angewurzelt in der Wagenmitte stand und mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf die schwarze Öffnung starrte.

Der Teufel stand auf und nahm das Buffet bei der Hand. Das Buffet sah ihn an, und als es bemerkte, dass die Münze, die es eben erhalten hatte, ein Goldstück war, machte sich in seinem Gesicht ein zufriedenes Lächeln breit.

Die Tür schnappte jetzt wieder zu, und diesmal stand der Teufel dazu nicht extra auf. Durch die rußgeschwärzten Fenster war jetzt nichts mehr zu sehen.

Der Teufel nahm Platz und las in Ruhe den Artikel zu Ende, dann erhob er sich und ging gemächlich auf die andere Seite des Waggons. Er erreichte die zufallende Tür in dem Moment, als die Fahrerin die Abfahrt ankündigte, und packte sie mit einer ruhigen und zielsicheren Bewegung. Dann sah er auf die Uhr.

“Kann die asoziale Kackbratze, die im letzten Waggon die Tür blockiert, bitte vom Eingang zurücktreten und die Tür freimachen! Sie behindern die Abfahrt!” meckerte die Fahrerin über Lautsprecher.

“Dich hol ich auch noch.” murmelte der Teufel und dachte dabei unwillkürlich an all die dunklen Jahrhunderte zurück, in denen er fast nur Männer geholt hatte. Diversität war ein Geschenk des Himmels.

Als er in diesem Moment das Stakkato der Absätze auf dem gekachelten Bahnsteigboden vernahm, sah der Teufel kurz nach draußen: Von der anderen Seite des Bahnsteigs kam eine Frau mit blonden Locken und dunklem Hosenanzug gelaufen. Die hohen Absätze schienen ihr dabei hinderlich zu sein – aber da konnte er leicht Abhilfe schaffen.

“Gottverdammte…!” schrie sie, als unter ihren Schritten erst der eine und gleich darauf der andere Absatz brach.

“Nana…” Der Teufel schüttelte den Kopf. Er trat einen Schritt zur Seite, und im nächsten Augenblick sprang die Frau in den Waggon. Die Schuhe hatte sie in der Hand.

“Sie haben ja genau das gleiche an wie ich!” keuchte sie als allererstes.

“Sachen gibt’s…” erwiderte der Teufel mit sanfter Stimme. Dann schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

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Stefan